Auf kaum mehr Raum als
einer Fingerkuppe sorgt ein kleines Organ im Innenohr für Phantastisches:
Die Aufnahme von Geräuschen, Lauten und Sprache und deren Umwandlung
von mechanischer Energie in elektrische, in Nervenimpulse.
Dabei besitzt
das Gehör von allen Sinnesorganen die höchste (Absolut-)
Empfindlichkeit:
Der Unterschied zwischen dem kleinsten noch hörbaren
und dem lautesten noch erträglichen Ton liegt bei einem Faktor von 10
Millionen Einheiten Schalldruck.
Bei soviel Vermögen liegen Unvermögen
und Fehlermöglichkeiten nicht fern, eine davon ist das Phänomen
Tinnitus.
Dieses ist - zumindest ansatzweise - erklärbar mit dem
Verständnis des "normalen Hörvorgangs". Deswegen soll im folgenden
vom Aufbau und Funktionieren des Hörorganes die Rede sein.
Trotz gegenteiliger
Bemühungen sind die Zusammenhänge nicht so einfach und vielleicht
auch nicht so spannend wie die praktischen Fragen und Sachverhalte.
Was Sie
- zusammengefaßt als Eindruck - wissen sollten, ist, daß Hören,
und auch Tinnitus, nicht wie etwa ein elektrischer Signalempfänger
funktioniert, sondern ein ein aktiver, hoch komplex gesteuerter und letztlich
individueller Vorgang ist.
Vom Schall zum Nervenimpuls
Hören heißt
vor allem Schallsignale aufnehmen und verarbeiten.
Dabei passieren
Schalleindrücke das äußere Ohr bis zum Trommelfell.
Die Bewegung
des Trommelfells wird über die kleinen Gehörknöchelchen (Hammer,
Amboß, Steigbügel), die die Schwingungen 18-22-fach
druckverstärken, bis an das Innenohr übertragen.
(Wo sich Fische und Reptilien treffen. Wie kommen Hammer, Amboss und Steigbügel in unser Ohr?)
Im Mittelohr werden die
Druckimpulse als Schallwelle an die flüssigkeitsgefüllten
Gehörschläuchelchen weitergegeben.
Dies geschieht je nach
Schallqualität unterschiedlich. Schwingungen mit hoher Frequenz haben
ihr Maximum nahe dem Steigbügel, solche mit niedriger Frequenz am Ende
des Gehörgangs in der Nähe des "Schneckenlochs".
Dadurch wird jede
Frequenz je nach ihrem Amplitudenmaximum an einem anderen Ort der nach ihrer
äußeren Form benannten Schnecke abgebildet.
In der Schnecke (Cochlea)
sind auf engstem Raum drei mit Lymphflüssigkeit gefüllte
Schläuchelchen aufgerollt.
Dadurch wird der eigentliche Gehörgang
(Ductus cochlearis) von zwei flüssigkeitsgefüllten Etagen, der
sogenannten Scala tympani (Paukentreppe) und der Scala vestibuli (Vorhoftreppe)
umgeben, eine unerläßliche Voraussetzung für den
Hörvorgang.
Die im Gehörgang angesammelte Flüssigkeit wird
Endolymphe (die Flüssigkeit im Gehörgang = endo), die Flüssigkeit
in der Vorhof- und Paukentreppe Perilymphe (die Flüssigkeit um den
Gehörgang herum = peri) genannt.
Das eigentliche Sinnesorgan, das nach
seinem Erstbeschreiber genannte "Cortische Organ" mit seinen ca. 15.000
Sinneszellen, (12.000 äußere und 3000 innere Haarzellen), sitzt
auf einer Membran des Gehörganges, der Basilarmembran.
Wanderwelle
Das Hören, die
Schallanalyse, wird nach dem heutigen Wissensstand folgendermaßen
erklärt:
Durch Volumenverschiebung der Perilymphe wird die Basilarmembran
zusammen mit dem gesamten Gehörgang zunächst an umschriebener Stelle
aus der Ruhelage ausgelenkt.
Die dabei entstandene Ausbuchtung der Basilarmembran
pflanzt sich nun in Form einer Wanderwelle in Richtung des Ortes fort, wo
sich der "innere" und der "äußere" Gang der Perilymphe (Paukentreppe
und Vorhoftreppe) am "Schneckenloch" treffen.
Die Wanderwelle verhält
sich aber nicht wie ein einfach aufgespanntes Seil, das hin und her schwingt,
sondern bekommt besondere Eigenschaften, unter anderem, weil die Basilarmembran
zunehmend breiter wird, während der knöcherne Kanal sich zunehmend
verengt. So wächst die Größe dieser Wanderwelle im Fortschreiten
bis zu einer gewissen Stelle mit maximaler Auslenkung und bricht dann rasch
zusammen, ähnlich wie bei einer Welle, die am flachen Strand aufläuft.
So ist eine räumliche Trennung nach Frequenzen erklärlich. Schwingungen
mit hoher Frequenz haben ihr Maximum nahe dem Steigbügel, solche mit
niedriger Frequenz in der Nähe des "Schneckenlochs".
Dadurch wird jede
Frequenz je nach ihrem Amplitudenmaximum an einem anderen Ort der Basilarmembran
abgebildet.
Die Umwandlung
von mechanischer Energie - angefangen von der Druckaufnahme im Außenohr
weitergeleitet bis zu den Perilymphschläuchelchen - zu einem elektrischen
Nervenimuls geschieht durch Auslenkung der Basilarmembran und Verschiebung
der sogenannten "Deckmembran".
Damit kommen an den Sinneszellen für
das Hören, den "Haarzellen" Scherkräfte zur Wirkung, die die
Sinneshaare verschieben, und es kommt zu einer veränderten Motilität
der Sinneshärchen.
Dies ist der Reiz, auf den ein elektrischer Impuls
in Richtung Hörzentrum im Gehirn geschickt wird. Wie auf der Abbildung
oben zu sehen, weist das Cortische Organ zwei Arten von Haarzellen auf: die
inneren und die äußeren Haarzellen.
Dabei sind die inneren Haarzellen
für den eigentlichen Hörvorgang verantwortlich, während die
äußeren eine moderierende Funktion haben.
Sie können bei
sehr schwachen Schallreizen die Auslenkung der Basilarmembran verstärken
oder bei sehr starken Reizen die Auslenkung abschwächen.
Schon auf sehr
frühen Ebenen wird Einfluß auf die Hörverarbeitung genommen.
So sorgen im Mittelohr kleineste Muskeln, die an den Gehörknöchelchen
ansetzen, für eine Moderation der Schallübertragung. Sie
dämpfen(!) - nach einer direkten Rückkopplung zwischen Stammhirn
und den Steigbügelmüskelchen - die Schwingungen, die durch die
Übertragung von der Luft- zur Knochenleitung entstanden sind. Dadurch
verhindern sie ein längeres Nachschwingen, das für die
Schallübertragung nachteilig wäre. Bei Veränderungen im Mittelohr,
etwa einer Entzündung oder Otosklerose (Verkalkung der
Mittelohrknöchelchen) kann sich ein Klirren, eine Tinnitusform des
erkrankten Mittelohres, bemerkbar machen.
Dieser und die weiteren
Regulationsvorgänge der Hörverarbeitung sind aktive und sehr
individuelle Prozesse.
Spätestens ab dem Innenohr werden diese
Regulationsvorgänge durch Einflüsse aus dem hörverarbeitenden
Teil des Großhirns, aber auch dem vegetativen System und limbischen
System, die verantwortlich für die Gefühlswelt sind, beeinflußt.
So wird aus einer Außenwelt, die über objektiv messbare Schallimpulse
"in uns" dringt, eine höchst eigene Wirklichkeit.
Diese entsteht keineswegs
nur durch Weglassen und Filterung, sondern ganz aktiv schon in der Schnecke,
etwa durch Aktivitäten der äußeren Haarzellen. Diese empfangen
ihre Impulse aus Knotenpunkten des hörverarbeitenden Systems, womit
die äußeren Haarzellen nicht nur - je nach (objektiver)
Lautstärke dämpfen oder verstärken, sondern vermutlich auch
je nach (subjektiven) Gefühlen, z.B. Angst oder Freude, Liebe und Haß
etc, Höreindrücke verändern. Dabei ist die Effektivität
der äußeren Haarzellen so groß, daß der von ihnen
neu erzeugte Schall bis zur Außenwelt vordringen kann.
Dieser kann
neuerdings mit hochempfindlichen Meßmikrophonen als sogenannte
"Otoakustische Emissionen", etwa für diagnostische Zwecke in sich immer
verfeinernden Formen, gemessen werden. Interessant und für das
räumliche Hören unerläßlich ist, daß
größere Teile der von der Schnecke zum Zentralnervensystem ziehenden
Nervenleitungen schon sehr früh, ab dem zweiten Nervenknoten, auf die
andere Hör- und Hirnseite kreuzen. So ist jeder Impuls aus der Schnecke
mit dem Hörzentrum verbunden.
Die beiden Hörzentren sind untereinander
und mit vielen anderen Zentren eng verbunden, so auch mit dem Limbischen
System, das - gefühlsmäßig - die von außen eindringenden
Informationen bewertet.
Zahlreiche fördernde, aber auch hemmende
Einflüsse kommen in der zentralen Hörwahrnehmung zur Geltung, so
daß auch noch so objektive Nervenimpulse je nach Aufmerksamkeit und
Stimmungslage anders wahrgenommen werden. Dies kann für die
Bewältigung des
Tinnitus
nutzbar gemacht werden.